Während manche Unternehmen die Evaluierung psychischer Belastungen als lästige Pflicht verstehen, stellt sich insbesondere bei Großunternehmen die Frage: Wieso braucht man eine Arbeitsplatzevaluierung, wenn es bereits regelmäßige Mitarbeiterbefragungen gibt? Wir vergleichen die Befragungsinstrumente und erklären Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mitarbeiterbefragung und Evaluierung psychischer Belastungen.
Die gesetzliche Verpflichtung zur Evaluierung psychischer Belastungen stößt in zahlreichen Unternehmen aufgrund bereits existierender Mitarbeiterbefragungen auf wenig Gegenliebe. Gerade bei Großunternehmen, die Mitarbeiterbefragungen in der überwiegenden Mehrheit bereits als Standardinstrumente etabliert haben, wird die zusätzliche Evaluierung psychischer Belastung als Redundanz erlebt. Schließlich befragt man in beiden Fällen Mitarbeitende und hat das Ziel, Verbesserungsmaßnahmen im Unternehmen abzuleiten.
Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass es neben einigen grundsätzlichen Gemeinsamkeiten wie zum Beispiel der Erhebungsmethode, auch Unterschiede zwischen der Mitarbeiterbefragung und der Evaluierung psychischer Belastung gibt – zum Beispiel hinsichtlich des Prozesses. Während es sich bei einer Mitarbeiterbefragung um eine Erhebung mit offenem nicht-standardisiertem Vor- und Nachbearbeitungsprozess handelt, lässt sich die Belastungserhebung im Rahmen der Evaluierung psychischer Belastungen vielmehr als ein Puzzleteil eines fortlaufenden Evaluierungsprozesses beschreiben.
Aufbauend auf dieser grundlegenden Differenz sowie dem gesetzlich verpflichtenden Charakter der Evaluierung psychischer Belastungen gibt es eine Vielzahl weiterer Unterschiede. Wir machen den Unterschied zwischen einer klassischen Mitarbeiterbefragung und der Evaluierung psychischer Belastungen deutlich:
1. Rechenschaftspflicht: Gesetzlich haftbar vs. Intern verantwortlich
Die Evaluierung psychischer Belastungen ist im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (kurz: ASchG) verankert und ihre Durchführung gilt als gesetzliche Pflicht für jeden Betrieb in Österreich. Verantwortlich und haftbar ist – wie in vielen Bereichen des ArbeitnehmerInnenschutzes – der Arbeitgeber bzw. als Vertretung die Geschäftsführung.
Im Gegensatz dazu steht die Durchführung einer Mitarbeiterbefragung häufig vor dem Hintergrund unternehmensinterner Zielsetzungen. Rechenschaftspflichten ergeben sich für die Projektverantwortlichen nur im internen Kontext. Rechtliche Konsequenzen eines Misslingens müssen die Verantwortlichen einer klassischen Mitarbeiterbefragung in der Regel nicht fürchten.
2. Mitarbeitende einbeziehen: Ganz oder gar nicht?
Bei der Partizipation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Gesamtprozess handelt es sich um ein vom Arbeitsinspektorat gefordertes Kriterium der Evaluierung psychischer Belastungen. Nicht ohne Grund: An etwas mitwirken, sich mit einer (Experten-)Meinung einbringen und mitgestalten – das erhöht sowohl das Interesse als auch die Motivation, etwas für das Gelingen des Vorhabens beizutragen. Somit ist die Partizipation der Mitarbeitenden während des gesamten Evaluierungsprozesses besonders wichtig für den Erfolg und nachhaltig verbesserte Arbeitsbedingungen.
Im Gegensatz dazu werden partizipative Elemente in Mitarbeiterbefragungen zwar oft schon als Standard bezeichnet, dies ist aber nicht immer der Fall. Es gibt zahlreiche Beispiele für Pulse-Befragungen, Stimmungsbarometer oder ähnliche Umfragen, die nie partizipativ durchgeführt werden, sondern vor allem der Kennzahlengewinnung dienen.
3. Planen und Begleiten: Steuerungsgruppe vs. Projektgruppe
Die klassische Mitarbeiterbefragung wird häufig von einer HR-besetzten Projektgruppe vorangetrieben, die Besetzung der Steuerungsgruppe im Rahmen der Evaluierung psychischer Belastungen hingegen erfordert eine breitere Beteiligung unterschiedlicher Parteien.
Das ASchG sieht vor, dass Betriebsrat, Sicherheitsfachkraft, Sicherheitsvertrauensperson sowie Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner sowie gegebenenfalls weitere Fachexpertinnen und -experten (bspw. Arbeitspsychologinnen und Arbeitspsychologen) die Evaluierung begleiten und Entscheidungen zentral treffen. Die unterschiedliche Besetzung der Projekt- bzw. Steuerungsgruppe hat Konsequenzen für den weiteren Verlauf. Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter bilden die Interessensvertretung der Belegschaft und werden von dieser in der Regel auch als solche betrachtet. Dementsprechend sind sie gut informiert und können meinungsbildend als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Betrieb auftreten. Die unterschiedlichen Betrachtungswinkel der Beteiligten (organisatorisch, technisch, medizinisch, psychologisch) sind für die Anpassung der Arbeitsbedingungen zudem förderlich.
Projektgruppen in Mitarbeiterbefragungsprojekten werden hingegen leider häufig zu HR-lastig besetzt. Dies fördert aufgrund weniger beteiligter Personen zwar die Effizienz, erschwert jedoch einen ganzheitlichen Blick auf das Unternehmen. Bei der Kombination einer Mitarbeiterbefragung und einer Evaluierung psychischer Belastungen sollte daher besonderes Augenmerk auf die Zusammenstellung der Projekt- bzw. Steuerungsgruppe gelegt werden.
4. Erheben: Standardisiertes Screening-Instrument vs. Individueller Fragebogen
Die Belastungserhebung im Rahmen der Evaluierung psychischer Belastungen geschieht unter Verwendung standardisierter in der Ö NORM EN ISO 10075-3 beschriebener Erhebungsinstrumente. Die standardisierte Anforderung an diese Instrumente sorgt dafür, dass einheitliche Qualitätsstandards für Messverfahren erfüllt werden. Dabei sind die vier Kernthemen der Evaluierung bereits vom Arbeitsinspektorat vorgegeben.
Mitarbeiterbefragungen werden hingegen mit weit mehr Spielraum aufgesetzt – sowohl was die Themen als auch die methodischen Möglichkeiten betrifft. Diese Flexibilität erlaubt eine maßgeschneiderte Vorgehensweise, angepasst auf die derzeitige Situation eines Unternehmens.
Neuere Ansätze bieten jedoch die Möglichkeit, den Gegensatz hinsichtlich der Erhebungsinstrumente aufzulösen und streben integrierte Messungen an.
5. Ergebnisse auswerten: Homogene Tätigkeitsgruppen vs. Abteilungen
Während bei der Evaluierung psychischer Belastungen die Arbeitsbedingungen als Befragungsgegenstand betrachtet werden, gilt es bei der Mitarbeiterbefragung die Mitarbeitermeinung und das Mitarbeitererleben (ein oft übersehener, aber fundamentaler Unterschied) als Befragungsgegenstand zu untersuchen. Dieser Logik folgt auch die Auswertung.
Im Rahmen der Arbeitsplatzevaluierung wird nach vergleichbaren Arbeitsbedingungen bezüglich aller erhobenen Befragungsinhalte ausgewertet. Dies führt dazu, dass besondere „Einzelarbeitsplätze“ gegebenenfalls auch gesondert betrachtet werden müssen (z. B. die zwei Chauffeure, der eine Rezeptionist, der eine Berufstaucher).
In Mitarbeiterbefragungen folgt die Bildung der Auswertungseinheiten in der Regel den vorhandenen Abteilungen sowie dem Organigramm. Ein organisatorisch oft einfacherer Zugang, der auch einer eindeutigen Verantwortlichkeit in der Aufarbeitung der Ergebnisse einer Befragung entspricht: Der Linienführung.
6. Ergebnisse beurteilen: Externe Benchmarks vs. Interne Vergleiche
Das Kernstück von Befragungen ist sicherlich die Beurteilung der Erhebungsergebnisse und darauf aufbauend die Ableitung der nächsten Schritte.
Wie beurteilt man Ergebnisse im Rahmen der Arbeitsplatzevaluierung? Gesetzlich festgelegter Beurteilungsmaßstab ist das (nicht) Vorhandensein von Gefahren (Gefahren = arbeitsbedingte physische und psychische Belastungen, die zu Fehlbeanspruchungen gem. § 2(7) ASchG führen). Da für die Belastungserhebung ausschließlich ÖNORM 10075-3 erfüllende Verfahren eingesetzt werden, sollte in jedem Fall zudem eine repräsentative Vergleichsstichprobe als Vergleichsmaßstab eingesetzt werden. Vor dem Hintergrund steigender psychischer Erkrankungen durch arbeitsbedingte Belastungen sollten infolgedessen solche Erhebungsergebnisse als potenzielle Gefahr beurteilt werden, die in einem Betrieb zumindest stärkere Ausprägungen aufzeigen, als dies am gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt der Fall ist.
Ein solcher Vergleichsmaßstab ist unter Einsatz individualisierter Mitarbeiterbefragungen nur schwer möglich. Denn sowohl nicht-repräsentative Benchmarking-Datenbanken einzelner Anbieter als auch Vergleiche mit einer bspw. aus einem Wettbewerb stammenden „Bestengruppe“ bieten keine dem Gesetzgeber entsprechenden Einordnungskriterien. Sie sind nicht repräsentativ.
7. Maßnahmen ableiten: Muss vs. Soll
Die Evaluierung psychischer Belastungen fordert die Ableitung von Maßnahmen auf Basis der Beurteilung der Erhebungsergebnisse. Alle abgeleiteten (und nicht abgeleiteten) Maßnahmen gilt es zudem klar zu begründen. Wie genau Maßnahmen abzuleiten sind, hat der Gesetzgeber nicht festgelegt. Etabliert hat sich die Durchführung von Mitarbeiter-Workshops, welche jedoch gesetzlich keineswegs verpflichtend sind. Die Arbeit in reinen Expertengruppen wäre ebenso zulässig. Festgelegt hingegen ist jedoch, wie Maßnahmen auszusehen haben. Maßnahmen sollten der Belastungsursache an der Quelle ihres Ursprungs entgegenwirken und kollektive Wirksamkeit entfalten. Um kollektiv wirksam sein zu können, müssen Maßnahmen an den Arbeitsbedingungen ansetzen. Da es leichter gelingt, Arbeitsbedingungen an Menschen anzupassen als Menschen an Arbeitsbedingungen, fördert diese Vorgabe die Nachhaltigkeit von Maßnahmen.
Für den Follow-up von Mitarbeiterbefragungen gibt es hingegen keinerlei Grenzen. Die Verantwortlichen im Unternehmen legen fest, ob, wie, wann und von wem Maßnahmen gesetzt werden. Dementsprechend sind viele Maßnahmen, die in der Praxis aus Mitarbeiterbefragungen entstehen, ungeeignet für Arbeitsplatzevaluierungen nach dem ASchG. So kann ein „Teamcoaching“ nach einer Mitarbeiterbefragung gegebenenfalls zwar einen akuten Teamkonflikt lösen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine kollektiv wirksame Maßnahme im Sinne des Arbeitsinspektorates, da die Arbeitsbedingungen nicht direkt im Zentrum stehen.
8. Maßnahmen umsetzen und Wirksamkeit überprüfen
Die Umsetzung von Maßnahmen, ebenso die Wirksamkeitsüberprüfung müssen bei der Evaluierung psychischer Belastungen mit Zuständigkeit und Frist im Sicherheits- und Gesundheitsschutzdokument festgelegt werden. Wann die Umsetzung zu beginnen hat und bis wann diese abgeschlossen sein muss, lässt der Gesetzgeber offen. Wie genau die Überprüfung zu erfolgen hat, richtet sich nach der Maßnahme und kann inhaltlich von einer Überprüfung der Umgebungslautstärke (bspw. nach Einrichtung von Schallschutzmaßnahmen) mittels Schallpegelmessgerät bis zur wiederholten Belastungserhebung reichen.
Die Umsetzung und Überprüfung von Maßnahmen im Rahmen eines Follow-up von Mitarbeiterbefragungen richtet sich hingegen stark nach den individuellen Bedarfen einzelner Unternehmen. Es fehlt jedoch der Rückenwind der gesetzlichen Verpflichtung: Eigenverantwortung ist gefragt.
Gut Ding will Weile haben
Die Evaluierung psychischer Belastungen ist im Großen und Ganzen ein gut durchdachter Prozess, bei dem viele Zahnräder ineinandergreifen. In der Praxis bleibt jedoch die Herausforderung bestehen, die oft komplexen betrieblichen Strukturen von Unternehmen mit den gesetzlichen Anforderungen an die Arbeitsplatzevaluierung in Übereinstimmung zu bringen. Diesem Umstand trägt der Gesetzgeber prinzipiell Rechnung, indem er bei der Beurteilung, Maßnahmengestaltung und Umsetzung von Maßnahmen breite Spielräume lässt.
Die Praxis zeigt jedoch, dass sowohl aufseiten der Unternehmen als auch aufseiten der Arbeitsinspektorinnen und -inspektoren ein paralleler Lernprozess stattfindet, der Evaluierungsprojekte über die letzten Jahre zusehends professionalisiert hat. Gut Ding will eben Weile haben.
Mitarbeiterbefragung vs. Evaluierung psychischer Belastung: Fazit
Der Vergleich zeigt: Die Mitarbeiterbefragung und die Evaluierung psychischer Belastungen zeichnen sich gleichzeitig sowohl durch Gemeinsamkeiten als auch durch Unterschiede aus.
Neben Planung, Ergebnisbewertung, Maßnahmenableitung und Umsetzung – ist die gesetzliche Verpflichtung der wohl größte Unterschied. Nichtsdestotrotz können beide Erhebungsinstrumente in der individuellen Umsetzung einen nachhaltigen Beitrag zur Organisationsentwicklung leisten und in der kombinierten Durchführung sogar hilfreiche Synergien freisetzen.
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