Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich – geht das? Und wenn ja: Wie? Auf diese Fragen hat Gerd Beidernikl eine Antwort. Der vieconsult Geschäftsführer gibt einen praxisnahen Einblick in die Vorteile der 35h Woche und zeigt auf, welche Arbeitszeitmodelle die Zukunft der Arbeitswelt besonders prägen könnten.
Das Thema „Arbeitszeitverkürzung“ ist in aller Munde. Obwohl die 35h Arbeitswoche noch einen gewissen Orchideen-Status in Österreich innehat, sind wir der Überzeugung, dass sie bald zu einem Dreh- und Angelpunkt der modernen Arbeitswelt wird – sowohl in Bezug auf das Thema „Gesundheit“ als auch in Zusammenhang mit dem Thema „Arbeitgeberattraktivität“.
Die Einführung der 40h Woche im Jahr 1975 war die letzte allgemeine Arbeitszeitverkürzung in Österreich. In den 1980er-Jahren haben nur bestimmte Branchen die 38,5h Woche eingeführt. Seitdem blieb die Arbeitszeit gleich – und dass, obwohl die Produktivität über die letzten Jahre rasant angestiegen ist. Einige Schätzungen gehen dahingehend sogar davon aus, dass wir seit den 1980er-Jahren um mehr als 50% produktiver arbeiten als je zuvor.
In anderen Worten: Wir arbeiten immer schneller und produzieren immer mehr, müssen aber immer noch gleich lang arbeiten. Gerade in der Wissensarbeit hat diese Gleichung jedes Gleichgewicht verloren.
Warum 35h Woche?
vieconsult beschäftigt sich als modernes Unternehmen gezielt mit der Frage, wie wir in Zukunft leben und arbeiten wollen. Dass die klassische 40h Woche nicht mehr in die Zukunft passt, davon bin ich voll überzeugt. 2021 haben wir daher die 37,5h Woche eingeführt und mit dem diesjährigen 12. Firmengeburtstag haben wir nun auf die 35h Woche umgestellt – bei unverändertem Gehalt.
Hinter unserer Arbeitszeitreduktion auf eine 35h Woche bei vollem Lohnausgleich stehen drei grundsätzliche Überzeugungen, die wir bei vieconsult teilen:
1. Veränderung schafft „Fair use“
vieconsult hat nicht nur die Vision, die Arbeitswelt mit jedem Kundenprojekt ein Stück besser machen zu wollen, sondern auch für sich selbst intern ein ausgezeichneter Arbeitgeber zu sein. Daher wollen wir Veränderungsthemen vorausdenken und vorleben. Eine Arbeitszeitreduktion ist dahingehend nur ein Puzzleteil von vielen weiteren. Dazu zählen ebenso unlimitiertes Homeoffice, offengelegte Gehälter oder das Recht für jede und jeden im Team auf Dinge, die sie oder er benötigt, um den eigenen Job noch besser machen zu können.
2. Leistungsfähigkeit durch Regeneration
In der Wissensarbeit kann die 10. Stunde am Tag oder die 40. Stunde in der Woche nicht mehr dieselbe „Power“ besitzen wie die Stunden, die man erholt und mit frischer Energie investiert. Auch wenn „Zeit“ bis heute eine Maßzahl im Arbeitsrecht ist, hat sie in der Praxis wenig(er) Bedeutung. Ich glaube daran, dass man seine 40. Stunde häufig nur „absitzt“ und die echte Wertschöpfung in den Stunden davor passiert. Wir wollen fördern, indem wir fokussieren. Jede Anspannung braucht auch Entspannung – entsprechend ist die Arbeitszeitreduktion vor allem eine Investition in die Leistungsfähigkeit und die Regeneration der Belegschaft.
3. Bedürfnisse auf einem veränderten Arbeitsmarkt
Die Prioritäten ändern sich und Zeit ist eine der Währungen, mit denen Unternehmen Menschen in Zukunft bezahlen werden. Als Kleinunternehmen fällt es zum Teil schwer, mit Großkonzernen mitzuhalten – besonders wenn es um das Thema „Recruiting“ geht. Dafür können wir dort punkten, wo es uns leicht möglich ist: In der Qualität der Beziehungen untereinander und in der Flexibilität der Arbeitsumgebung – und dem verschreiben wir uns voll und ganz. Ich glaube daran, dass sich die Prioritäten am Arbeitsmarkt verändert haben und weiter verändern werden. Unsere Arbeitszeitreduktion ist eine Antwort auf diesen Wandel.
Wie kann sich vieconsult die 35h Woche leisten?
Da drängt sich die Frage auf: Wie können wir uns die 35h Woche leisten?
Ich möchte es anders formulieren: Wie konnten wir es uns leisten, die letzten paar Stunden pro Woche unproduktiv abzusitzen, statt diese in aktive Erholung, Familie oder Hobbys zu investieren?
Ich sehe die 35h Woche als eine Investition in die Leistungsfähigkeit der Belegschaft. Der Return on Investment liegt auf mehr Aufmerksamkeit und Fokus während der Arbeitszeit und mehr Erholungswert in der Freizeit. Funktioniert dies automatisch? Nein – auch diesbezüglich muss man eine Organisation vorbereiten. Und auch im Hinblick auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlangt dieses Modell nach einem Menschentypus, der Leistung erbringen will und eigenverantwortlich zu arbeiten vermag. Wenn diese Grundbedingungen zutreffen, wird die Zeitreduktion Früchte tragen. Und unsere Erfahrungen sind nach nun bald zwei Jahren des Experimentierens zu 100% positiv.
4-Tage-Woche als Option, aber keine Pauschallösung
Woran ich nicht glaube, wäre zum Beispiel pauschal die 4-Tage-Woche einzuführen. Denn ich bin der Ansicht, dass diesbezüglich die Anforderungen von Menschen sehr stark auseinandergehen. Während die 4-Tage-Woche beispielsweise für Menschen ohne Kinder hoch interessant ist, schätzen Menschen mit schulpflichtigen Kindern eine Verteilung auf fünf Tage bei geringerer Tagesarbeitszeit und andere wollen eine 6. oder 7. Urlaubswoche „einarbeiten“. Auch hier können Unternehmen mit individualisierten Konzepten punkten.
32h Woche? Denkmöglich.
Wohin die Reise uns zukünftig führen wird? Das weiß ich als Unternehmer noch nicht. Wir möchten schrittweise agieren. Prinzipiell halte ich eine 32h Woche unter bestimmten Rahmenbedingungen für denkmöglich, wenn es um eine Vollzeitarbeitswoche der Zukunft geht. Aber das wird unsere eigene Zukunft noch zeigen.
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