Die Welt verändert sich, ebenso die Arbeitswelt. Die EAOHP 2024 Konferenz, die Anfang Juni in Granada (Spanien) stattfand, dient alle zwei Jahre als Plattform zur Förderung der Weiterentwicklung von Forschung, Ausbildung und Praxis auf dem Gebiet der Arbeits- und Gesundheitspsychologie (engl. occupational health psychology). Über drei Tage hinweg präsentieren und diskutieren Forscher:innen und Praktiker:innen über aktuelle Trends und Ergebnisse.
Drei Key-Takeaways:
- Wie wird künstliche Intelligenz Arbeit beeinflussen? Um das zu verstehen ist die Arbeits- und Gesundheitspsychologie unerlässlich; die Forschung befindet sich hier noch in den Anfängen.
- Weg von individuellen Unterschieden hin zu Gesundheit und Prävention – die Forschungsschwerpunkte verschieben sich.
- Das Wohlbefinden von Mitarbeiter:innen bleibt ein zentrales Thema in der aktuellen Forschung.
STARA – Die neue Arbeitswelt ist da!
Die Hälfte aller Berufe wird innerhalb des nächsten Jahrzehnts von der Automatisierung betroffen sein. Die vier großen Trends der technischen Entwicklung, die unsere Arbeitswelt prägen und verändern, werden unter der Abkürzung STARA zusammengefasst:
- Smart Technologies
- Artificial Intelligence
- Robotics
- Algorithms
Mit der Einführung von ChatGPT und anderen generativen KI-Anwendungen nutzen Unternehmen zunehmend diese Tools, um Aufgaben zu erledigen, die früher von Menschen durchgeführt wurden. Besonders die wachsende Gig-Economy (ein Arbeitsmarkt, der aus Aufträgen für Freiberufler:innen oder Nebenjobs besteht) stützt sich stark auf Plattformarbeit, die von computergesteuerten Algorithmen verwaltet wird. Diese Algorithmen überwachen nicht nur Beschäftigte, sondern bewerten auch deren Produktivität und treffen beschäftigungsrelevante Entscheidungen oft ohne menschliches Eingreifen, insbesondere im Bereich der Einstellung und Entlassung (algorithmic management).
Da sich die Fortschritte dieser NextGen-Technologien (auch bekannt als die vierte industrielle Revolution) beschleunigen, ist es dringend erforderlich, neben ihren Vorteilen auch ihre potenziellen Gefahren zu untersuchen. Ein neues Phänomen und Forschungsgegenstand in diesem Zusammenhang ist die Berufsunsicherheit (occupation insecurity), die die Befürchtung der Mitarbeiter:innen betrifft, dass ihre Berufe durch STARA verschwinden oder sich erheblich verändern könnten. Besonders jüngere Mitarbeiter:innen in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind über die Auswirkungen von STARA besorgt.
NextGen-Technologien bieten nicht nur Chancen durch mehr Sicherheit am Arbeitsplatz und Innovation, sondern bergen auch enorme Risiken wie die Verdrängung von Arbeitsplätzen und zunehmende Prekarität der Arbeit. Auf der Mitarbeiter:innenseite können sie unter anderem zu mehr Zynismus, Burnout, Unhöflichkeit und geringerer Karrierezufriedenheit führen.
Wie können die negativen Auswirkungen dieser Technologien gemildert und ihre Vorteile maximiert werden? Eine starke und unterstützende Unternehmenskultur ist entscheidend, um die Auswirkungen von STARA auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen und den Erfolg des Unternehmens positiv zu gestalten. Darüber hinaus ist der Bereich der Arbeits- und Gesundheitspsychologie hier besonders gefordert und hat folgende Appelle formuliert:
- Proaktiv statt reaktiv agieren: Einbindung von Forscher:innen und Praktiker:innen aus der Arbeits-und Gesundheitspsychologie bereits in die Entwicklung und Implementierung neuer Technologien.
- Gesunde Technologien entwickeln: Einsatz von Technologien, die das Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen fördern. Dabei ist die aktive Einbeziehung von Mitarbeiter:innen bzw. Endnutzer:innen der Technologien unerlässlich.
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern: Intensive Zusammenarbeit mit Expert:innen aus verschiedenen Disziplinen wie Technologie, Data Science, Soziologie, Psychologie und Ethik.
Wir brauchen HEROs
Moderne Unternehmen benötigen gesunde und motivierte Mitarbeiter:innen, um in Zeiten des Wandels zu überleben und zu gedeihen. Mitarbeiter:innen und Teams sind das wertvollste Kapital einer Organisation, und es wird in Zukunft immer wichtiger, sie zu halten. Ob ein/e Mitarbeiter:in in einem Unternehmen bleibt, hängt stark davon ab, ob das Unternehmen ein gesundes Umfeld bietet. Ein gesundes Umfeld bedeutet, dass die Organisation sich sowohl um die Gesundheit der Mitarbeiter:innen und Teams als auch um die Effektivität, das Überleben und die zukünftige Entwicklung der Organisation als Ganzes kümmert.
Das Konzept der Healthy and Resilient Organizations (HERO) hat nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen, sondern auch in der beruflichen Praxis an Bedeutung gewonnen, insbesondere im Kontext anhaltender globaler Krisen in den Bereichen Gesundheit, Soziales und Politik (Salanova, 2021). HEROs sind Organisationen, die systematische, geplante und proaktive Anstrengungen unternehmen, um die Prozesse und Ergebnisse sowohl der Mitarbeiter:innen als auch der Organisation zu verbessern. Diese Bemühungen umfassen die Implementierung gesunder organisatorischer Ressourcen und Praktiken, die darauf abzielen, das Arbeitsumfeld zu verbessern. Das HERO-Modell besteht aus drei Hauptkomponenten, die miteinander verbunden sind:
- Gesunde Organisationsressourcen und -praktiken: Dazu gehören Aufgabenressourcen (z. B. Autonomie, Abwechslung), das soziale Umfeld (z. B. soziale Unterstützung, transformationale Führung) und Organisationspraktiken (z. B. Work-Life-Balance, Gleichberechtigung und Integration, Wellness-Programme).
- Gesunde Mitarbeiter:innen: Diese zeichnen sich durch Engagement, Resilienz, Selbstwirksamkeit, Vertrauen und positive Affekte aus.
- Gesunde Ergebnisse der Organisation: Zu den gesunden Ergebnissen einer Organisation gehören die Leistung innerhalb und außerhalb der eigenen Rolle sowie andere Indikatoren für Effektivität (z. B. Servicequalität, objektive finanzielle Leistung, Engagement, Kund:innentreue) und positive Beziehungen zu Umwelt und Gemeinschaft.
In der Praxis soll die HERO-Methode einen partizipativen Ansatz verfolgen. Das bedeutet, dass verschiedene Interessengruppen (z. B. Führungskräfte, Vorgesetzte, Mitarbeiter:innen und Kund:innen) wichtige Partner:innen im Bewertungs- und Umsetzungsprozess sind. Dieser Prozess wird durch die Entwicklung gesunder Programme fortgesetzt, um die Organisationspolitik und schließlich die Organisationskultur nachhaltig zu beeinflussen.
Kein Drama mit DRAMMA
Die Veränderungen im modernen Arbeitsleben haben zu einer zunehmenden Arbeitsintensivierung und sozialen Beschleunigung geführt, die eine Bedrohung für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Mitarbeiter:innen darstellen können. Auf Mitarbeiter:innenseite kann es zu geistiger und körperlicher Erschöpfung kommen, die zu einem höheren Erholungsbedarf, depressiven Beschwerden und sogar zu koronaren Herzkrankheiten und Schlaganfall führen kann.
Was kann jede Person selbst tun, um in dynamischen und anspruchsvollen Zeiten erholt und damit gesund zu bleiben? Erholung von der Arbeit schützt vor den schädlichen Auswirkungen hoher Arbeitsanforderungen auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen (Sonnentag et al., 2017). Neben der einfachen Erholungspause können auch Pausenaktivitäten und psychologische Erfahrungen (z. B. Entspannung) das Erholungspotenzial einer Pause erhöhen.
Das DRAMMA-Modell erklärt, wie und unter welchen Umständen Freizeit das subjektive Wohlbefinden steigert (Newman et al., 2014). Das DRAMMA-Modell aus der Erholungsforschung beschreibt sechs Dimensionen, die für optimale Erholung in Pausen oder der Freizeit erfüllt werden sollten: Detachment, Relaxation, Autonomy, Mastery, Meaning und Affiliation.
- Detachment und Relaxation tragen dazu bei, die Aktivierung zu verringern. Dies ist wichtig, da eine anhaltende Aktivierung der psychobiologischen Systeme einer Person aufgrund einer unzureichenden Erholung langfristig dem Wohlbefinden abträglich ist.
- Autonomy bedeutet, über den eigenen Zeitplan und die Aktivitäten außerhalb der Arbeit entscheiden zu können. Autonomie über das eigene Leben zu haben, kann als ein psychologisches Grundbedürfnis im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie (Ryan & Deci, 2000) angesehen werden.
- Mastery umfasst Lernmöglichkeiten und Herausforderungen, die zu Gefühlen von Erfolg und Kompetenz außerhalb des Arbeitsbereichs führen. Die Beschäftigung mit herausfordernden, aber auch lohnenden Aktivitäten ermöglicht Mitarbeiter:innen, ihre erschöpften oder verlorenen persönlichen Ressourcen wieder aufzufüllen, Flow und Selbstwirksamkeit zu erleben.
- Meaning in Form von sinnstiftende Freizeitaktivitäten sind ein Mittel, durch das Menschen etwas Wichtiges oder Wertvolles in ihrem Leben gewinnen. Insbesondere in den Freizeitwissenschaften wird die Suche nach und das Finden von Sinn als Schlüsselelemente von Freizeit und Lebensqualität im Allgemeinen angesehen.
- Affiliation bezieht sich auf das Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, das nach der SDT-Theorie (Ryan & Deci, 2000) als angeborenes psychologisches Bedürfnis gilt und soziale Unterstützung fördert, die wiederum Menschen bei der Bewältigung stressiger Ereignisse hilft.
Menschen, die sich während der Arbeit und in ihrer Freizeit aktiv um die Erfüllung ihrer DRAMMA-Bedürfnisse bemühen, fühlen sich energiegeladener und sind weniger von Ermüdung betroffen als diejenigen, die ihre Zeit am Arbeitsplatz und in der Freizeit nicht gezielt nach den DRAMMA-Bedürfnissen ausrichten, insbesondere unter hohen beruflichen oder privaten Anforderungen.
Wie gesund ist Ihr Unternehmen?
Fazit: Aufgrund von STARA brauchen wir HERO und DRAMMA.
In unsicheren Zeiten sollte der Mensch, der neue Technologien nutzt und von ihnen beeinflusst wird in Bezug auf seine Bedürfnisse nicht vernachlässigt werden. Gesunde Arbeitsverhältnisse für gesunde Mitarbeiter:innen zu schaffen, ist dabei von entscheidender Bedeutung und sollte sowohl in der Forschung als auch in der Praxis im Vordergrund stehen.
Als Expertinnen und Experten für Mitarbeiterbefragungen und 360-Grad Feedbacks begleiten wir Sie bei der Bewertung Ihrer aktuellen Unternehmenskultur im Unternehmen. Kontaktieren Sie uns gerne, um zu erfahren, wie Ihr Projekt mit vieconsult aussehen könnte!
Quellen und Literaturtipps
Newman, D. B., Tay, L., & Diener, E. (2014). Leisure and subjective well-being: A model of psychologi-
cal mechanisms as mediating factors. Journal of Happiness Studies, 15(3), 555–578.
Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). The“ what“ and“ why“ of goal pursuits: Human needs and the self-determination of behavior. Psychological inquiry, 11(4), 227-268.
Salanova, M. (2021). Work engagement: a key to HEROs–healthy and resilient organizations. In A research agenda for employee engagement in a changing world of work (pp. 53-65). Edward Elgar Publishing.
Sonnentag, S., Venz, L., & Casper, A. (2017). Advances in recovery research: What have we learned?
What should be done next? Journal of Occupational Health Psychology, 22(3), 365–380.
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